Nachwuchs

Berufswahl ohne Klischees

Interview mit Margit von Kuhlmann und Philip Herzer
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Glückliche Kinder mit ihrer afroamerikanischen Lehrerin für Naturwissenschaften mit Laptop, die elektrisches Spielzeug und Roboter im Robotik-Klassenzimmer programmiert. Quelle: BGStock72 auf adobe.com

Klischeevorstellungen über Berufe halten sich bei jungen Menschen hartnäckig. “In der IT arbeiten nur Nerds” oder “Im Kindergarten sind nur Frauen”: Wenn Jugendliche das denken, schränkt das ihren Blick für die Berufswahl ein. Es verstärkt auch den Fachkräftemangel, wenn Berufe entlang von Geschlechtergrenzen gewählt werden. Wie kann man das ändern?

Philip Herzer untersucht als Wissenschaftler am Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB), warum man berufliche Klischees nur so schwer aus den Köpfen bekommt. Seine Kollegin Margit von Kuhlmann arbeitet für die Initiative Klischeefrei, die sich für eine Berufswahl frei von Geschlechterstereotypen einsetzt und Informationen für Kitas, Schulen und Unternehmen anbietet. Ein Gespräch über Ursachen und Lösungen.


Wann geht es los, dass wir klischeehafte Vorstellungen von Berufen haben?

Philip: Ich kann das schon bei meinen kleinen Söhnen beobachten. Wenn ich die frage: Wer arbeitet in der Kita, Männer oder Frauen? Dann sagen sie: ‘Frauen’. Und bei der Müllabfuhr? ‘Männer’. Die verstehen sehr schnell, dass in manchen Berufen vorwiegend Männer oder vorwiegend Frauen sind. Sie können sich gar nicht vorstellen, dass sie später mal als Mann in einer Kita arbeiten könnten, weil sie dort nie einen gesehen haben.

Margit: Im Kindergarten gibt es viele Bücher, die das reproduzieren, was in der Gesellschaft zu sehen ist. Wir als Erwachsene müssen uns dieser Dinge bewusst werden. Es wäre schön, wenn Kinder in einer Umgebung aufwachsen, die insgesamt etwas offener ist.

Wir haben mit der Initiative Klischeefrei das Methodenset für Kitas zum Thema Berufe entwickelt. Auf Bildern sieht man eine Försterin, eine Polizistin, einen Pfleger oder eben auch eine IT-Frau. Das soll den Blick der Kinder offenhalten dafür, dass es auch andere Möglichkeiten gibt.

Wie wirken sich aus wissenschaftlicher Sicht die Klischees später bei der Berufswahl aus?

Philip: Eine Kollegin von mir hat untersucht, warum manche Berufe nicht gewählt werden. Das wird aus Unternehmenssicht oft nicht bedacht. Die Mitarbeitenden haben sich ja mal entschieden, in diesem Unternehmen zu arbeiten, und legen einen starken Fokus auf die positiven Aspekte.

Die Berufswahl ist aber stärker davon geprägt, was uns abhält, einen Beruf zu wählen. Die Kollegin spricht in ihrem Modell von Aversions- und Attraktionsfaktoren. Attraktionsfaktoren entscheiden darüber, ob wir dazu neigen, einen Beruf zu ergreifen. Und die Aversionsfaktoren entscheiden darüber, ob wir einen Beruf ablehnen.

Wir vergleichen, wie wir selbst sind, mit unseren klischeebehafteten Vorstellungen, wie jemand ist, der einen bestimmten Beruf ausübt.

Philip Herzer

Welche Faktoren sorgen dafür, dass wir einen Beruf ablehnen?

Philip: Manche sind ganz naheliegend: Jemand, der Höhenangst hat, wird nicht Dachdecker:in. Jemand, der kein Blut sehen kann, wird nicht Pfleger:in. Aber ein Aversionsfaktor ist auch, wenn wir vermuten, dass unser soziales Umfeld negativ auf diese Berufswahl reagiert. Jugendliche kennen ihre Eltern und ihren engsten Freundeskreis ja schon von klein auf und haben ein feines Gespür dafür, wie Reaktionen ausfallen könnten.

Entscheidend scheint dabei zu sein: Passt der Beruf zu meinem Geschlecht? Der andere Aversionsfaktor ist das gesellschaftliche Prestige. Um es ganz plakativ zu sagen: Wenn der Arztsohn sagt, ich werde Krankenpfleger, dann vermutet er vielleicht von seinen Eltern eine negative Reaktion, weil das soziale Ansehen nicht passt und es ein eher weiblich geprägter Beruf ist.

So werden Berufe aufgrund der gesellschaftlichen Stereotypen häufig unbewusst ausgeschlossen. Es scheint uns wichtiger zu sein, was andere über uns denken, als was wir selbst darüber denken. Dabei könnten diese Berufe eigentlich total gut zu den Talenten und Stärken der jungen Menschen passen.

Selbst technikinteressierte Mädchen kommen also gar nicht erst auf die Idee, einen IT-Beruf auszuwählen?

Margit: Die International Computer and Information Literacy Study aus dem Jahr 2018 hat bei Achtklässler:innen festgestellt, dass Mädchen in mehreren digitalen Kompetenzfeldern deutlich besser abschneiden als Jungen. Gleichzeitig nehmen sie digitalen Anwendungen gegenüber eine kritischere Haltung ein als Jungen. Wenn man die Jugendlichen fragt, wer kann sich vorstellen, solch einen Beruf zu ergreifen, dann sind das zwei Drittel die Jungs, aber nur ein Drittel der Mädchen.

Daraus haben die Forschenden verschiedene Dinge geschlossen. Das eine sind die Klischees, die in den Köpfen der Mädchen gar nicht erst das Bild entstehen lassen, dass sie sich in einem IT-Beruf sehen können. Sie trauen sich weniger zu, während die Jungen sich eher überschätzen. Das bedeutet, dass zweitens der Informatikunterricht für Mädchen anders sein müsste. Man müsste mehr auf projektbasiertes Arbeiten mit dem Fokus auf Selbstwirksamkeitserfahrungen setzen. Drittens kommt hinzu: Im Laufe der Pubertät setzen sich die Selbstbilder fest. Mädchen wählen den Informatikunterricht häufig ab. Und am Ende ist die IT für die Frauen gestorben.

Philip: Selbst junge Frauen, die sagen, sie möchten gerne mit Menschen arbeiten, wissen, dass man das in IT-Berufen ganz viel macht. Aber sie wissen auch, dass das gesellschaftliche Klischee des ITlers der männliche Nerd ist, der vorm Computer sitzt. Und das ist tatsächlich das Wirksamere.

Warum ist das so?

Philip: Es gibt eine Theorie, die heißt Self-to-prototype Matching. Wir vergleichen, wie wir selbst sind, mit unseren klischeebehafteten Vorstellungen, wie jemand ist, der einen bestimmten Beruf ausübt. Wenn das nicht gut passt, dann schließen wir den Beruf aus. Ist dieses Stereotyp ein männliches, dann gibt es für eine Frau überhaupt keine Möglichkeit, Ähnlichkeiten zu finden.

Welchen Beitrag können Unternehmen leisten, um mit solchen Stereotypen aufzuräumen?

Margit: Die Unternehmen könnten Vorbilder zur Verfügung stellen, indem sie zum Beispiel auf ihren Webseiten Frauen in IT-Berufen sichtbar machen. Oder sie bieten an, Praxiserfahrung zu sammeln, zum Beispiel durch Praktika oder die Teilnahme am Girls Day. Sie können auch gezielt auf Schulen in ihrem Umfeld zugehen und anbieten, ihre Arbeit dort vorzustellen, am besten natürlich mit Role Models, wenn es die schon gibt.

Philip: Eines der Angebote, die in unserem Forschungsprojekt untersucht werden, sind die Ausbildungsbotschafter:innen. Auszubildende stellen in Schulen ihre Berufe vor. Mädchen, die eine Ausbildungsbotschafterin in ihrer Schulklasse sehen, haben die Möglichkeit, sich mit ihr zu identifizieren. Das ist auf Augenhöhe, ähnliche Altersstufe, ähnliche Sprache.

Man muss natürlich diese Pionier:innen haben, weil es um identitätspsychologische Prozesse geht. Nichts ersetzt die Frau, die tatsächlich in der IT arbeitet, damit junge Mädchen sehen können: Frauen arbeiten tatsächlich dort und sind zufrieden.

Unternehmen haben einen Spielraum, wie sie ihre Unternehmenskultur gestalten und nach außen tragen, ob sie zum Beispiel Work-Life-Balance erwähnen.

Margit von Kuhlmann

Wie können technische Berufe für diese Pionier:innen attraktiv werden?

Philip: Es sollte nicht nur auf die Tätigkeiten geschaut werden. Es geht darum, eher auf die Rahmenbedingungen zu zielen. Auch die Aspekte, die nicht ganz unmittelbar mit den beruflichen Tätigkeiten und Inhalten zu tun haben, sind für die Berufswahl wichtige Aspekte.

Margit: Geschlechtergerecht formulierte Stellenanzeigen, das machen in der Regel alle schon. Gerade bei technischen Berufen wird aber sehr oft auf die besonderen technischen Inhalte eingegangen.

Um dem Ganzen einen anderen Dreh zu geben, kann man Formulierungen wählen, mit denen man die Interessen von Frauen stärker berücksichtigt. Dabei werden eher das Zwischenmenschliche und der Nutzen der Tätigkeit betont. Unternehmen haben einen Spielraum, wie sie ihre Unternehmenskultur gestalten und nach außen tragen, ob sie zum Beispiel Work-Life-Balance erwähnen.

Läuft man damit Gefahr, andere Klischees zu bedienen, zum Beispiel dass Männer nicht teamorientiert arbeiten wollten?

Philip: Man kann es klischeefreier betrachten, wenn man davon ausgeht, dass das eine statistische Betrachtung ist. Wichtig ist, klischeefrei zu denken: Es gibt Zielgruppen, die haben wir noch nicht erschlossen. Ob das Männer oder Frauen sind, das ist ja egal, wenn wir dem Fachkräftemangel adäquat begegnen wollen. Wir wollen die Leute kriegen, die wir noch nicht haben.

Und dann schauen wir: Was hält Menschen ab, in unser Unternehmen zu kommen? Wie räumen wir mit Stereotypen auf, wie die Arbeit hier aussieht und wie unsere Leute rüberkommen? Viele Unternehmen finden in der Praxis gute, kreative Lösungen.

Was haben Unternehmen davon, wenn sie sich klischeefreier präsentieren?

Margit: Diverse Teams sind kreativer, performen besser als sehr uniforme Teams. Idealerweise haben Unternehmen dann weniger Schwierigkeiten, für ihre Stellen gute Leute zu finden. Sie können sich in der Öffentlichkeit modern und weltoffen präsentieren.

Philip: Ich denke, wenn man nicht nur technisch, sondern auch gesellschaftspolitisch ein fortschrittliches Image lebt und das auch zeigt, dann macht das generell ein Unternehmen bei jungen Menschen attraktiv. Jeder möchte ja lieber bei dem Unternehmen sein, wo die Leute sagen: “Das sind doch die Fortschrittlichen, die Modernen, die Klischeefreien.” Das sind auch die, die die Frauen in die IT kriegen.

Mitmachen bei der Initiative Klischeefrei

Die Initiative Klischeefrei wurde 2017 vom Bundesbildungs- und Bundesfamilienministerium ins Leben gerufen. Sie hat das Ziel, eine geschlechtergerechte Berufs- und Studienwahl zu unterstützen. Unternehmen und Institutionen können kostenfrei Partnerorganisation der Initiative Klischeefrei werden. Informationen gibt es unter www.klischee-frei.de/mitmachen.

Ein neues Faktenblatt informiert über die Geschlechterverhältnisse in den IT-Berufen. Es zeigt das Ungleichgewicht auf und welche Folgen das für den gesellschaftlichen Wandel hat. Derzeit werden IT-Berufe immer noch sehr stark entlang von Geschlechtergrenzen gewählt. Doch gerade Berufe, die einseitig von einem Geschlecht ausgeübt werden, sind häufig auch die mit einem großen Fachkräfteengpass.

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