Nachwuchs

Der Himmel ist noch nicht die Grenze

Interview mit Physikerin Anna Chrobry, Hochschule Bremen
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Foto: Arne Winterboer

Dass es für Frauen noch genügend Raum in der Raumfahrt gibt, behauptet humorvoll der Werbespot einer Kosmetik-Marke. Eine die das beweist, ist die promovierte Physikerin Anna Chrobry. Sie arbeitete für große Raumfahrtunternehmen – und war dort oft die einzige Frau im Raum. Außerdem beteiligt sich Anna Chrobry an der Gründung eines internationalen Studiengangs für Raumfahrt und Informatik an der Hochschule Bremen. Mit vielfältigen Aktivitäten ermutigt sie junge Frauen, MINT-Berufe zu ergreifen.


Du hast in den letzten Jahren bei verschiedenen großen Luft- und Raumfahrtunternehmen gearbeitet. Ist ein Space Girl wie du heute noch etwas Besonderes?

Für mich ist es etwas ganz Besonderes! Ich komme aus Polen, aus einem kleinen Dorf. In meiner Gemeinde wollte niemand auch nur ein Flugzeug nehmen. Meine Träume reichten weit über die Erdatmosphäre hinaus. Es war nicht einfach, aber es hat funktioniert. Das Messgerät für die Atmosphäre, das ich im Rahmen meiner Promotion konstruiert habe, fliegt auf einem HALO-Flugzeug. Und das Raumfahrzeug „ORION“, an dem ich gearbeitet habe, wird die erste Frau zum Mond bringen.

Obwohl in Bremen die Gruppe Women in Aerospace initiiert wurde, ist das Geschlecht immer noch ein Thema im All. Ich selbst habe das Gefühl, dass mich die Bezeichnung „Frau unter männlichen Kollegen“ nicht ausreichend beschreibt. Polin, promovierte Physikerin in Deutschland, erste Wissenschaftlerin in meiner Familie von Landwirten mit starken künstlerischen Neigungen: Es ist dieser vielschichtige Hintergrund, der mich auszeichnet, nicht nur mein Geschlecht. Schließlich wurde ich auch darauf hingewiesen, dass ich kein echtes Space Girl bin: Ich habe keinen Abschluss in Luft- und Raumfahrt! Dabei mischen zwei Physiker die Branche seit Jahren auf: Elon Musk und Dr. Will Marshall.

Wer hat dich auf deinem Weg inspiriert?

Obwohl ich von starken weiblichen Vorbildern umgeben war, war ich vielleicht eine der ersten Frauen aus meiner Gemeinschaft, die ins Ausland ging, einen Doktortitel in Physik erwarb und in der Luft- und Raumfahrtbranche arbeitete. Ich hatte in diesem Sinne kein Vorbild. Meine Galaxie besteht aus Selfmade-Frauen und -Männern aus Minderheiten, die mit ihren Leistungen glänzen: Allen voran ist da meine Landsfrau Marie Sklodowska-Curie, die einzige Frau, die zwei Nobelpreise erhalten hat. Dann Trinity – der Hacker aus Matrix, das Team von Anynomous Hacktivist und die KI-Expertin Dr. Kenza Ait Si Abbou Lyadini. Außerdem Hedy Lamarr, der unglaubliche Geist hinter sicherem WiFi, GPS und Bluetooth.

Es gibt genug Platz im Weltraum für Männer und Frauen.

Im Film „Hidden Figures“ geht es um Programmierinnen, die in den 1960er-Jahren maßgeblich an Weltraumprogrammen der NASA beteiligt waren. Sie hatten mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Du selbst hast an einer Mond-Mission der NASA mitgearbeitet. Welche Erfahrungen hast du gemacht?

In nur drei Jahren, im Jahr 2025, werden wir auf den Mond zurückkehren. Das neue Programm trägt den Namen Artemis, nach der griechischen Mondgöttin. Diesmal sind es Frauen, die die erste Rolle im Wettlauf ins All spielen. Obwohl es für die erste Astronautin nur ein kleiner Schritt sein wird, wird es für uns alle, für die Frauen in der Wissenschaft und in der Raumfahrtindustrie, ein großer Sprung sein.

Vor 50 Jahren gab es viele „Hidden Figures“, die die Apollo-Mission unterstützten. Ohne sie wäre das Mond-Raumfahrtprojekt nicht durchgeführt worden. Aber niemand wusste von ihnen. Sie blieben im Schatten der Männer, die im Rampenlicht glänzten. In den letzten Jahrzehnten hat sich viel verändert. Es gibt genug Platz im Weltraum für Männer und Frauen. Und es lohnt sich, unsere Leistungen ins Rampenlicht zu rücken. Immerhin wird zum ersten Mal in der Geschichte eine Frau auf dem Mond stehen!

Du hast einen internationalen Master-Studiengang an der Hochschule Bremen und der Universität Danzig initiiert.

Ja, zurück zu den akademischen Wurzeln… Ich bin stolz darauf, dass ich den ersten Kontakt herstellen konnte und die weitere Entwicklung des neuen Studiengangs unterstützen darf. Ich bin sehr froh, dass wir weibliche Fachleute an Bord haben: Die Projektleiterin in Bremen ist meine frühere Airbus-Kollegin, die Software-Ingenieurin und Professorin Jasminka Matevska. Als Gastdozentinnen werden Frauen aus der Industrie eingeladen.

Das Studium soll für Softwareentwicklung und das Management von Raumfahrtsystemen qualifizieren. Warum ist die Verbindung dieser beiden Bereiche wichtig?

Die zunehmende Digitalisierung, Verbreitung und Vernetzung technischer Systeme führt zur Notwendigkeit eines Studiengangs, der Methoden und Fähigkeiten der Systemsicht und Interdisziplinarität vermittelt. Software ist nicht nur ein Subsystem für Trägerraketen oder Satelliten. Sie ist in jedem Aspekt der Entwicklung und der Kontrolle des Raumfahrtprojekts präsent. Außerdem haben wir hier auf der Erde keine Möglichkeit, alle Bedingungen während der Mission nachzubilden. Wir müssen jeden Aspekt separat simulieren, manchmal durch reale Tests mit einem technischen Prüfmodell, manchmal durch Computersimulationen.

Außerdem sollen Management- und Sozialkompetenzen vermittelt werden. Könnte dieser Bereich Frauen besonders interessieren?

Das Klischee des männlichen unbeholfenen IT-Nerds, der einen Kapuzenpulli trägt und nur programmiert, gilt nicht mehr. Ähnlich verhält es sich mit dem Raumfahrtingenieur. Dienstleistungen sind der größte und dynamischste Bereich sowohl der entwickelten als auch der sich entwickelnden Volkswirtschaften. Fast alle Dienstleistungen sind heute IT-gestützt. Entwicklungen wie Cloud Computing, Infrastructure as a Service und maschinelles Lernen haben neue Möglichkeiten der Wertschöpfung eröffnet.

Daher ist es unabdingbar, mit den Prozessen vertraut zu sein, mit denen im Rahmen eines Projekts ein Mehrwert für den Kunden geschaffen wird. In den modernen agilen Projekt-Frameworks wird der Schwerpunkt auf soziale Kompetenzen und Teamarbeit gelegt. Wer seine Aufgabe erledigt, hilft dem Team, voranzukommen.

Ich selbst habe viele unaufgeforderte Tipps zu meiner Karriere erhalten, die nicht zu meiner Persönlichkeit, meinen Zielen und meinem Hintergrund passten.

Anna Chrobry

Welche Ratschläge gibst du jungen Wissenschaftler:innen?

Ich berate regelmäßig Hochschulabsolvent:innen und junge Berufstätige, wobei ich die Ratschläge immer auf die jeweilige Person abstimme. Ich selbst habe viele unaufgeforderte Tipps zu meiner Karriere erhalten, die nicht zu meiner Persönlichkeit, meinen Zielen und meinem Hintergrund passten. Ich wurde sogar für meine Entscheidung kritisiert, meinen Doktortitel zu machen, und nicht direkt in die Industrie zu gehen, oder später, die akademische Welt zu verlassen und in die Raumfahrtindustrie zu wechseln, statt mein eigenes Hightech-Start-up zu gründen.

Es gibt eine Sache, die ich immer sage: „Be brave, the sky is not even the limit.“ Ich möchte aber nicht als Motivationscoach wahrgenommen werden. Für First Generation Students, die als erste in ihrer Familie studieren, gilt: Vergleiche dich nicht mit anderen. Gehe deine eigene Geschwindigkeit Wenn man die erste Generation von Fachleuten in der Familie ist, ist der Aufstieg auf der sozioökonomischen Leiter immer etwas schwieriger. Vernetze dich, tritt Berufsverbänden in deinem Bereich bei.

Erkennen deine Superkräfte, zum Beispiel mit dem Gallup-Test und den 16 Persönlichkeiten-Test. Und für Frauen noch ein Buchtipp: „Wie Frauen aufsteigen“. Wähle eine Graduiertenschule, die Coachings zu Führungsqualitäten und ein Doktorandenprogramm anbietet, das Kurse zum wissenschaftlichen Schreiben oder zur effektiven Vorbereitung deiner Verteidigung umfasst und über ein breites Netzwerk verfügt. Hab keine Angst, etwas zu verpassen. Wir alle werden mit Inputs bombardiert. Finde Aktivitäten, bei denen du herauszoomen kannst: Yoga, Malen, Klavierspielen – nicht im Internet surfen.

Du engagierst dich dafür, dass junge, weniger privilegierte Menschen in MINT-Berufe kommen. Wie begeisterst du sie für diesen Bereich?

Ich nenne es romantisch: „Blowing in the wings of future gens.“ Wir leben in einer Welt, die von verschiedenen Technologien gesteuert wird. Digitale Kompetenzen sind genauso wie Lesen oder Schreiben ein Muss. Zugleich ist die Arbeit im MINT-Bereich spannender als je zuvor. Wir haben immer bessere Technologien hier auf der Erde und im Weltraum, wie das Internet der Dinge oder das maschinelle Lernen.

Ich nehme an einer Vielzahl von Outreach-Aktivitäten teil – Karrierepanels, MINT-Veranstaltungen, Beiträge für Wissenschaftsmagazine, Interviews für Zeitschriften und Podcasts, Wikipedia-Einträge über Wissenschaftlerinnen. Wenn ich eine Vergütung erhalte, unterstütze ich Organisationen, die sich dafür einsetzen, weniger privilegierten Kindern Zugang zu Ressourcen für eine qualitativ hochwertige Bildung zu verschaffen, Mädchen für eine mögliche MINT-Karriere zu begeistern und die Öffentlichkeit für den Klimaschutz zu sensibilisieren. Die Zukunft der MINT-Fächer hängt davon ab, dass diejenigen, die bereits dabei sind, der nächsten Generation die Hand reichen.

Die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) zählt dich zu den 175 inspirierenden Physiker:innen von heute und damals!

Ich fühle mich geehrt, diese Anerkennung zu erhalten. Und ich bin zu Tränen gerührt, wenn ich von meinen Mentees erfahre, dass ich sie dazu inspiriert habe, ihren Abschluss zu machen und nach den Sternen zu greifen. Wir brauchen mehr Wissen in Physik, Chemie und anderen MINT-Fächern, um die globalen Herausforderungen zu bewältigen, die unser Leben beeinflussen, wie zum Beispiel die Umweltverschmutzung, die Armut und die digitale Kluft und um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.

Wie werden Unternehmen für Frauen attraktiver? Tipps von Anna Chrobry:

  1. Stellt mehr Frauen ein und der Gewinn steigt um 25 Prozent! Nur mit Maßnahmen für Vielfalt und Integration werden wir Geschlechtergleichheit erreichen.
  2. Frauen haben in der Pandemie wieder mehr Care-Arbeit übernommen. Findet nachhaltige Lösungen!
  3. Die Sprach-Toolbox der UN trägt dazu bei, Führungskräften und leitende Mitarbeitenden dafür zu sensibilisieren, wie sie mit ihren Teams kommunizieren und die Anwendung geschlechtergerechter Sprache fördern können.
  4. Der Harvard-Test für unbewusste Voreingenommenheit sollte ein selbstverständlicher Teil der Orientierungswoche für neue Mitarbeitende werden.
  5. Mira Vasic, Expertin für Diversität und Integration, fragt: „Müssen Frauen männlich sein, um in der Wissenschaft erfolgreich zu werden?“ Ihre Einblicke für den akademischen Bereich gelten auch für die Industrie.

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